Ausstrahlung

Eine Charakterstudie

 

Geschätzte Eleni,

also ist der Tag gekommen, da ich die versprochene Charakterstudie abliefere:

Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen, und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen! (Jesaja, 51,7).

Zu beginnen mit der Sprache. Die ist mir gegenüber locker, parataktisch, wogegen sie selbst gegenüber näheren Bekannten syntaktisch ausschweifend sich zeigt bis ins Enigmatische, mit langen Hinführungen, Nebenbemerkungen und Parenthesen. Die Sprache zeigt keine Reste mir bekannter Mode-Idiome eines vergangen Jahrzehnts (jedes Jahrzehnt hat so seine typischen Ausdrücke, welche die Leute aus ihrer Jugend in Spuren in ihr späteres Leben mitnehmen; man vergleiche nur die folgenden Steigerungsmöglichkeiten von Adjektiven: sehr, ganz, ziemlich, wirklich, echt, total, super – sie sind nach Alter ihrer Verwender verteilt). Lediglich der grünalternative Kompassiativ, der Betroffenheitsmodus des Verbs, kommt gelegentlich vor: Er beginnt mit „Es“, um eine gewisse Allgemeinheit zu beanspruchen, gesellt dem aber ein „mir“ oder „mich“ (manchmal auch „uns“) bei, das deutlich macht, dass es doch nur um die eigene Befindlichkeit geht: Es ist mir wichtig, dass ..; es macht mich betroffen, dass ..; es stört mich total, dass …; Sonst aber das reinste gesprochene Schriftdeutsch, wie gesagt aber nicht immer mir gegenüber.

Von der Sprache zur Symbolik: Für den Psychoanalytiker ist das Unterbewusste symbolisch strukturiert, sie erschafft sich diese Symbolik bewusst (wenn auch nicht ungezwungen) und hofft so, ihr Un- oder Unterbewusstes zu leiten und gefügig, stille, erlebbar zu machen. Sehr äußerliche Handlungen (anderer und ihrer selbst) werden dann für sie Befreiungen, Abschiede, Erweckungen, Verschwörungen, Bezwingungen, genehmes Wohlwollen, das Betreten des Rathauses und der Rolle der Ratsfrau ein Betreten eines geschützten Raumes. Das erfordert gewiss Mut und innere Strenge, aber auch eine Energie, die sich nicht in Schwelgen, Ausschweifung usw. so leicht zeigen darf. Es erfordert auch eine gewisse Selbstsicherheit, meine Belehrungen über sich ergehen zu lassen, die regelrechten Referate eines Jüngeren. Dabei ist sie ja auch eine Lehrerin, die den Leuten die Welt erklären kann; das kann man vor allem, wenn nicht alles selbstverständlich ist. Als Selbstverständlichkeiten würden sich anbieten: Bildungsbürgertum (das kann man sich nicht aussuchen, und so konnte sie „nur“ eine gute Aufsteigerin werden – dass die Verhältnisse nicht so sind, dass wissen wir seit Bertolt Brecht), Ethnokitsch oder Ethnoproletariat), Religiosität, verkörperte Multikulturalität, linke Selbstgewissheit und grüne Betroffenheitslyrik (Bemutterung von Migranten etwa).

Es gibt natürlich so Äußerlichkeiten, über die kann man sich verwundern, zwei Handys oder die Notwendigkeit, öfter mal neue Fotos machen zu lassen. Man muss allerdings einräumen, dass das alles wohlüberlegt von statten geht und überdies sie mit ihrem zielführenden Stilunbewusstsein in letzter Zeit eine erhebliche Verjüngung geschafft hat. Diese Mischung aus der genannten Gefühlspolitik (Politik zur Ordnung und Deutung der Gefühle) und ihrer ideologischen Rechtfertigung (eine Lebensformenpolitik – Politik, die Freiheit der Lebensformen in Anspruch nimmt und im zweiten Schritt die Freiheit zu ermöglichen hilft) hat ihre Härten, aber sie hält daran keinesfalls nur aus Trotz fest. Sie kann aber immer auch zum Erfolg führen, denn ganz ohne Bewunderer ist diese Haltung nicht. Die Bühne dafür ist nicht zuletzt der Vortrags- und Kulturbetrieb der Landeshauptstadt, wo sie dem Teil des Publikums angehört, der aus Interesse kommt, nicht interessegeleitet oder wegen einer pauschalen Selbstvergewisserung, dass man sich irgendwie für hochstehende Dinge interessiert.

Politik als Beruf ist bei Max Weber das Bohren dicker Bretter, der gute Politiker ein Charakter, der geeignet durch seine richtige Mischung aus Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Politik ist oder war ihr auch ein Beruf, aber er handelt von der Kunst, dicke Bretter vor Köpfen unter strenger Wahrung der Gesinnung zu umgehen, und wenn man dafür sehr weit gehen muss. Immer am gleichen Brett zu bohren ist nicht ihre Gesinnung, das ist reine Technokratie, das können andere machen (selbst die Verwaltung verwaltet in ihrer Vorstellung nicht, sondern gestaltet). Lieber intensiv nachsinnen, dann fast wie besinnungslos arbeiten und am Ende sich auf die eigenen Kräfte besinnen und beiseite treten.

Dies also meine Einfälle, die es zu diskutieren gilt.

Herzliche Grüße einstweilen

B